Fachforum 01 - Sexualität: Ressource oder Risiko

Moderation und fachlicher Input:

Camilla Engelsmann, pro familia, Diplompsychologin

Martin Reinhardt, pro familia, Diplomsozialpädagoge

 

Offene Gespräche über das persönliche Erleben von Sexualität und Intimität sind schwierig – auch im Beratungskontext. Gleichzeitig sind körperliche Intimität und Sexualität essentiell für die Paarbeziehung. Nach dem fachlichen Input wurde im Forum der Frage nachgegangen, wie es gelingen kann unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen, Versagensängste und Enttäuschungen in der Beratung von Paaren angemessen zu thematisieren. Anhand von Fallbeispielen wurde die spezifische Arbeit vertiefend diskutiert und in den Rahmen der Partnerschafts- und Familienberatung gestellt.

Gespräche über Sexualität brauchen Zeit und Vertrauen

Zur Klärung führt nur das Gespräch. Sexualberatung versucht also zunächst einen Rahmen zu schaffen, in dem dies möglich wird. Offenheit entsteht über Vertrauen, Vertrauen braucht Zeit. Das Ziel, im Erstgespräch zu einer möglichst umfassenden Exploration zu kommen, ist oft kontraproduktiv. Das Benennen eigener Gefühle, Wünsche, Erwartungen und Ängste ist ein Prozess, der nach und nach voranschreitet. Die Klientinnen und Klienten erleben es dabei meist als hilfreich, wenn die Beraterin oder der Berater Worte anbietet, z.B. Worte für sexuelles Empfinden. Mitunter kann es auch nötig sein Geheimnisse zu lüften, um in der Problemlösung voran zu kommen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Beratung zu sexuellen Themen keiner rigiden zeitlichen Begrenzung unterliegt.

Auch der Umgang mit Schamgrenzen hat in der Sexualberatung eine  wichtige Bedeutung. Schamgrenzen sollten nicht als Erschwernis für einen erfolgreichen Beratungsverlauf angesehen werden, sondern im Gegenteil als Ausdruck von Selbstbestimmung. Schamgrenzen sind, selbst wenn sie aus gesellschaftlichen Normen resultieren, eine wichtige Facette der psychosexuellen Identität eines Menschen. Nur ein akzeptierender Umgang mit Schamgrenzen schafft einen Raum, in dem sich Menschen aus sich selbst heraus öffnen und verändern können. Und auch für die Beraterinnen und Berater ist ein respektvoller Umgang mit den eigenen Grenzen und denen der Klienten wesentlich für die Schaffung einer vertrauensvollen Atmosphäre in der die Probleme und Anliegen besprochen werden können.

Die auf Sexualität und Intimität bezogenen Fragen und Anliegen der Klientinnen und Klienten, die in die Partnerschaftsberatung kommen, sind unterschiedlich und vielschichtig

Die auf Sexualität bezogenen Fragen und Anliegen, mit denen Menschen in die Beratungsstelle kommen, sind sehr unterschiedlich. Sie beziehen sich auf die drei wesentlichen Dimensionen von Sexualität: Lust, Beziehung und Fortpflanzung. Die Verknüpfung mindestens zweier Dimensionen bei sexuellen Problemen in Paarbeziehungen ist dabei eher die Regel als die Ausnahme. Die große Herausforderung an die Sexualberatung besteht darin, sich dieser Vielschichtigkeit zu stellen und den Ratsuchenden individuelle und spezifische Unterstützung zu geben.

Die Vielschichtigkeit der geäußerten Anliegen zeigt sich meist erst bei genauer Betrachtung und im Verlauf des Beratungsprozesses. Die Störung der sexuellen Appetenz kann z.B. mit Ambivalenz gegenüber der Beziehung verwoben sein, Funktionsstörungen können im Zusammenhang mit abgewehrten sexuellen Präferenzen stehen, ein unerfüllter Kinderwunsch kann mit sexueller Lustlosigkeit oder Funktionsstörungen verbunden sein. Auch Traumatisierungen können sich hinter verschiedenen Symptomen wie Funktionsstörungen und Lustlosigkeit verbergen.

Typische Symptome, Anliegen, Probleme

 Frauen

  • Schmerzen beim Geschlechtsverkehr

    (Dyspareunie)

  • Vaginismus

  • Mangelnde Lubrikation

  • Probleme rund um den Orgasmus

     

    Männer

  • Erektionsschwierigkeiten (Erektile Dysfunktion)

  • Vorzeitiger Samenerguss (Ejaculatio präcox)

  • Probleme rund um den Orgasmus

     

    Probleme in der Partnerschaft

  • Unterschiedliches Interesse bezüglich der Häufigkeit gemeinsamer Sexualität

  • Unterschiedliche Vorstellungen bzgl. der Gestaltung von Sexualität

  • Sexuelle Lustlosigkeit / Lustverlust

     

    Neben den typischen Funktionsstörungen bei Frauen und Männern ist das in den Beratungen am häufigsten genannte sexuelle Problem sexuelle Lustlosigkeit.

    Zu dieser Symptomatik gehört meist, dass einer der/die Lustlose ist, der andere der/die Lustvolle. Neu ist, dass die Quote der „lustlosen Männer“ gewachsen ist und mittlerweile bei knapp 1/3 liegt. Hierfür gibt es verschiedene Gründe, z.B. dass Frauen klarer ihre Wünsche aber auch ihre Unzufriedenheit äußern, was Männer in die Defensive treiben kann. Und Männer erklären sich die Einschränkung ihrer sexuellen Potenz im Zusammenhang mit ihrem mangelnden Wohlbefinden (Verunsicherung, gefühlte Ablehnung, überhöhter Leistungsanspruch, Beziehungsambivalenz).

    Sexuelle Unzufriedenheit und Affären

    Nichts gefährdet eine Beziehung mehr, als der Versuch der (sexuellen) Unzufriedenheit durch eine Affäre bzw. eine Außenbeziehung zu entkommen. Und dennoch gehen sehr viele Männer und Frauen dieses Risiko ein. Ob offen oder geheim, lang oder kurz, wenn Dritte im Spiel sind, sind innere und/oder äußere Konflikte unvermeidlich. Die Erfahrung zeigt, dass die Arbeit an der Paarsexualität nur noch möglich ist, wenn dies für beide Partner ein zentrales Anliegen ist.

    Sexualität und Alter

    Das Bedürfnis nach befriedigender Sexualität kennt keine Altersgrenze. Dabei gilt allerdings eine einfache Regel: für Menschen, denen Sexualität ihr ganzes Leben lang wichtig war, bleibt sie auch im Alter wichtig. Wer eher wenig Interesse an Sexualität hatte, wird dies auch im Alter wenig verändern. Natürlich  beeinträchtigen körperliche Veränderungen und die Zunahme von Krankheiten die Sexualität. Die Art der sexuellen Kontakte muss sich deshalb mit zunehmendem Alter verändern. Die Häufigkeit nimmt ab und es findet eine Verschiebung vom Geschlechtsverkehr hin zu vermehrt anderen zärtlichen sexuellen Kontakten statt. Diese Umstellung ist für viele Menschen nicht einfach und stellt für Paare eine große Herausforderung dar.

            Besondere Symptome, Anliegen, Probleme 

  • Coming-out

  • Übermäßiger Pornografiekonsum

  • Sexsucht (Häufigkeit und Funktion der Sexualität)

  • sexuelle Präferenzen und Fixierungen (z.B. SM)

  • Transvestismus (Cross Dressing)

  • Transsexualität (geschlechtsangleichende Operation, Hormoneinnahme)

  • Sexuelle Delinquenz

    Süchtiger Pornografiekonsum hat als Beratungsthema in den letzten Jahren sehr zugenommen. Betroffen sind Männer jeden Alters. 25 % aller Suchanfragen im Internet betreffen pornografische Inhalte. Das Internet ist durch Anonymität, ungehinderte Verfügbarkeit und kostenlose Angebote zum  zentralen Verbreitungsweg von Pornografie geworden. Je nach Ausprägung des süchtigen Verhaltens, empfiehlt es sich an ambulante Psychotherapeuten weiterzuvermitteln. Leider sind Therapieplätze speziell zu diesem Thema in München kaum zu finden.


  • Berührungs- und Körperübungen in der Partnerschafts- und Sexualberatung

    Wenn wir bei der Einschätzung der Hintergründe sexueller Probleme von einem multifaktoriellen Verursachungsmodell ausgehen, müssen wir auch bei der Lösungssuche verschiedene Aspekte berücksichtigen. Die Klärung sexualisierter Konflikte, der Abbau von Vermeidungsverhalten und Sexualängsten, die Verbesserung der Wahrnehmung von Körperreaktionen und die Modifizierung fixierter sexueller Verhaltensmuster sind die wesentlichen Ziele der psychologischen Sexualberatung. Die Kombination aus Paargesprächen mit der Anleitung zu unterschiedlichen Berührungs- und Körperübungen (z.B. Übungen nach dem Hamburger Modell) zwischen den Sitzungen hat sich als methodisches Vorgehen bewährt Diese Kombination bietet die Möglichkeit in kleinen Schritten an Veränderungen zu arbeiten.

     

    Zwei Perspektiven: Der bindungsorientierte und der differenzierungsorientierte Blickwinkel

    Konzept der Bindung im sexuellen Erleben:

  • Sexuelles Begehren entwickelt sich aus emotionaler Nähe

  • Sexualität ist die intimste und sinnlichste Möglichkeit, sich körperlich angenommen und emotional geborgen zu fühlen

  • Geschlechtsorgane sind auch Sinnesorgane: Genitalien – „Sensualien“

  • Beziehungsstörungen führen zu sexuellen Störungen und die mangelnde Fähigkeit mit den auftretenden Störungen umzugehen, verstärkt die sexuellen Probleme.

 

Aus bindungsorientierter Perspektive betrachtet, ist Sexualität die intimste Form zwischenmenschlicher Begegnung, wenig wirkt so verbindend wie Sexualität. Die Grundbedürfnisse nach Akzeptanz, Zugehörigkeit, Nähe und Wärme können beim Sex hautnah erlebt werden. Aber Begehren und Hingabe bergen auch das Risiko, verletzt zu werden. Zu Beginn von Beziehungen steht die Erregungslust im Vordergrund, mit der Etablierung der Partnerschaft wird das Bedürfnis nach Bestätigung der Beziehung immer wichtiger. Die zunehmende Brüchigkeit von Beziehungen schafft Unsicherheiten, die sich negativ auf die Sexualität auswirken können, was wiederum dazu führt, dass die Bindungsqualität abnimmt. Paar- und Sexualberatung kann helfen diesen circulus vitiosus zu unterbrechen.

 

Konzept der Differenzierung im sexuellen Erleben:

  • Differenzierung in Beziehung ist die Fähigkeit, seine Selbstwahrnehmung und seine unverwechselbare Kontur aufrechtzuerhalten, während man dem/der Partner*in körperlich nahe ist

  • Sexuelles Begehren kann sich aus dem Reiz der sexuellen Differenz entwickeln

  • Die Bedeutung der Triebhaftigkeit für die Sexualität wird betont

Die Schwierigkeit kann aber auch ganz anders gelagert sein: wie bringen Paare Bindung und Begehren zusammen? Aus differenzierungsorientierter Perspektive sind persönlicher Freiraum, die Besinnung auf eigene Wünsche und Sehnsüchte sowie die Lust an der Verschiedenheit für Erotik und Begehren von entscheidender Bedeutung. Und so gesehen ist es positiv, wenn sich immer wieder bewahrheitet, dass es auch hinsichtlich der Sexualität ein Irrtum ist zu glauben „Wer sich lange kennt, kennt sich auch gut“.

Fazit der Diskussion

In der Diskussion zeigte sich, wie zentral die Sexualität für die Zufriedenheit in der Partnerschaft ist. Oder andersherum, wenn die Sexualität verkümmert, kommt es schneller und früher zu eskalierenden Auseinandersetzungen und Trennungen.

Paare brauchen in allen Phasen ihrer Existenz Unterstützung, hier kann Beratung einen wichtigen Beitrag leisten.

Sexualberatung hilft Paaren, sich mit ihren Ängsten und Konflikten, soweit sie sich in der körperlich-sexuellen Interaktion manifestieren, auseinanderzusetzen und sie in ihrer Funktion und Bedeutung besser verstehen zu lernen.

Über Sexualität zu sprechen und sexuelle Probleme aktiv lösen zu wollen ist keine Selbstverständlichkeit und wird oft von Ängsten und Schamgefühlen begleitet. Daher ist es hilfreich, wenn Beraterinnen und Berater selbst unverkrampft mit diesem intimen Thema umgehen können. Deshalb sind sexualtherapeutische Fort- und Weiterbildungen für Ehe-, Familien- und Lebensberater wichtig.

Dass Beratung zu sexuellen und intimen Problemen auch ein wichtiger Teil von Paar- und Familienberatung ist, sollte selbstverständlicher und mehr in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.