Am Donnerstag, 01.Februrar 2024 hat der inklusive Fachtag „Prozessbegleitung bei der Entwicklung sexualpädagogischer Konzepte in Einrichtungen der Behindertenhilfe (ProSeKo)“ in Stuttgart stattgefunden. Der Fachtag wurde im Rahmen des gleichnamigen Landesprojektes von pro familia Baden-Württemberg in Kooperation mit der Lebenshilfe Baden-Württemberg ausgerichtet.
Über 100 Selbstvertreter*innen, Fachkräfte und Angehörige haben sich getroffen, um sich über den Nutzen von sexualpädagogischen Konzepten, deren Entwicklung und nachhaltige Verankerung im Einrichtungsalltag zu informieren. Einen besonderen Fokus legte die Veranstaltung dabei auf partizipative Prozesse und Kriterien gelingender Partizipation aller.
Vortrag, Podiumsdiskussion und verschiedene Workshops öffneten Erfahrungsräume und haben zum angeregten fachlichen Austausch eingeladen (hier geht’s zum Programm-Flyer des Fachtags)
Das Feedback der Teilnehmenden war übereinstimmend positiv und es wurde deutlich, dass das Thema Sexualität in Einrichtungen der Behindertenhilfe einen festen Platz im Diskurs beansprucht.
Auch in den Medien wurde das Thema aufgegriffen, einen Beitrag auf tagesschau.de finden Sie hier.
Ruth Weckenmann betonte in ihrer Begrüßung, dass sexuelle und reproduktive Rechte, die Grundlage der Arbeit von pro familia in allen Bereichen, Menschenrechte sind – also unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion, Hautfarbe oder auch einer Behinderung.
Seit April 2022 hätten im Rahmen des Landesprojektes „Prozessbegleitung bei der Entwicklung sexualpädagogischer Konzepte in Einrichtungen der Behindertenhilfe (ProSeKo)“ in ganz verschiedenen Einrichtungen viele Treffen stattgefunden, bei denen Menschen mit Behinderungen, Angehörige und Fachkräfte überlegt haben, was für sie im Zusammenhang mit Sexualität wichtig ist, auf welche gemeinsamen Regeln sie sich einigen wollen, welche Angebote und Fortbildungen regelmäßig stattfinden sollen. Herausgekommen seien individuelle auf die einzelnen Einrichtungen zugeschnittene Konzepte, die von allen mitgetragen werden können. Das sei eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Konzepte im Alltag gelebt und nicht zu Papiertigern würden.
Dadurch, dass sexualpädagogische Konzepte helfen, den Umgang mit Sexualität zu regeln – indem sie Handlungs- und Gesprächsräume öffnen – wirkten diese auch präventiv: „Sexualpädagogische Konzepte und Schutzkonzepte gehen Hand in Hand.“
Peter Benzenhöfer fokussierte in seiner Begrüßung auf den Aspekt der Teilhabe und Inklusion, wobei er darauf hinwies, dass Inklusion ein Erfolgsmodell sei, sofern alle sich uneingeschränkt auf Augenhöhe begegneten. Das sei im Prinzip nicht schwer, denn: „Wir sind doch alle schwermehrfach normal. Das Wort Inklusion braucht man nur, damit die Politik es nicht vergisst.“ Sexualität brauche ganz selbstverständlich ihren Raum, denn sie sei ein wichtiger Aspekt des Lebens, der Wunsch nach Zärtlichkeit und Partnerschaft unabhängig von einer Behinderung. Benzenhöfer sprach sich dafür aus, zu seinen Wünschen nach Sexualität und Partnerschaft zu stehen und diese auch zu kommunizieren. Er betonte Konsens als Grundlage für erfüllende Sexualität: „Wer sich traut – natürlich im gegenseitigen Einvernehmen – der ist glücklich.“
Ministerialrätin Kirsten Schmidts, Leiterin des Referats Menschen mit Behinderungen im Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg, fokussierte in Ihrem Grußwort auf die UN Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), insbesondere die Artikel 16 (Freiheit vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch), Artikel 22 (Achtung der Privatsphäre) und Artikel 23 (Achtung der Wohnung und Familia). Die Artikel bezeugten beispielhaft ein umfassendes Verständnis von sexueller Selbstbestimmung. Aufgabe des Landes sei nun, Maßnahmen zu ergreifen, die UN-BRK „mit Leben zu füllen“, diesbezüglich sehe sie in Baden-Württemberg noch „Luft nach oben“. Auch müssten überkommene Moralvorstellungen abgebaut werden, wenngleich Ängste von Angehörigen stets ernstgenommen werden müssten. Ziel geeigneter Maßnahmen müsse stets sein, Menschen mit Behinderung zu empowern, auch in Bezug auf ihre Sexualität.
Dass neben Partizipation eine Sexualpädagogik der Vielfalt, die der Vielfältigkeit der Menschen Rechnung trägt, eine wichtige Grundlage sexueller Selbstbestimmung darstellt, machte Prof. Dr. Robin Bauer, DHBW Baden-Württemberg, in seinem Fachvortrag „Sexualpädagogische Konzepte: Selbstbestimmung partizipativ und vielfältig gestalten“ deutlich. Dem (Gewalt-)Schutzkonzept, das als Baustein einer „Gefahrenabwehrpädagogik“ zum Standard in der Behindertenhilfe gehört, stellte er das „Lustkonzept“ zur Seite, denn gewisse Risiken müssten eingegangen werden, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Offenheit für eigene Erfahrungen und Experimente sowie Eigensinn wurden als Richtschnur einer lustbetonten Sexualpädagogik der Vielfalt aufgezeigt, die zudem größeren präventiven Nutzen habe als restriktive Schutzkonzepte, denn, so Bauer: „Scham ist kein guter Begleiter in Bezug auf Schutz vor sexualisierter Gewalt.“
Im Gespräch: Thomas Henrichsen (Tennentaler Gemeinschaften), Marion Grimm (Sexualpädagogischer Fachdienst Paulinenpflege Winnenden), Christian Sulzberger (bhz Stuttgart), Katrin Steinbrenner (Leitung Wohnheim Lebenshilfe Sinsheim),
Moderation: Prof. Dr. Simone Danz
Den Raum zur Diskussion eröffnete Moderatorin Simone Danz mit der Frage, warum sexualpädagogische Konzepte in Einrichtungen der Behindertenhilfe so wichtig seien. Christian Sulzberger, der in einer der Arbeitsgruppen im Rahmen des Projektes an der Entwicklung des eines sexualpädagogischen Konzeptes für das bhz beteiligt war, brachte es mit seiner Antwort „Damit man besser miteinander leben kann“, bereits gut auf den Punkt. In der weiteren Diskussion wurde auch das Vermeiden von Schubladendenken als wichtiger Punkt benannt. Das Thema brauche auch mehr Raum als in Tür-und-Angel-Gesprächen möglich sei, denn das Reden über Sexualität sei ein wichtiger Schritt zur Selbstbestimmung, so Katrin Steinbrenner. Die unterschiedliche Prägung der Einzelnen sei in ihrer Einrichtung eine Herausforderung gewesen, einige Themen „schwelten“ unter der Oberfläche – eine wertfreie Kommunikation und eine offene Diskussionskultur seien hier der Schlüssel zum Erfolg. Marion Grimm bemerkte, dass die Arbeit an einem sexualpädagogischen Konzept jeden Einzelnen dazu bringe, sich mit den eigenen Normen und Werten auseinanderzusetzen und diese gegebenenfalls auf den Prüfstand zu stellen. Zudem sei der positive Blick auf Sexualität, nach 20 Jahren Fokus auf Schutzkonzepte „überfällig“ gewesen.
Die Arbeit am Konzept habe eine ganz neue Kultur in der Einrichtung etabliert, ergänzte Katrin Steinbrenner. Das Thema sei zum Standard in der Einrichtung geworden und habe einen festen Platz in jeder Teamsitzung. Zudem gebe es feste Ansprechpersonen, das sei nicht zuletzt auch entlastend für jene Kolleg*innen, die sich nicht berufen fühlten, Fragen zum Thema zu beantworten. Für männliche Klienten seien Ansprechpartner jedoch oft schwieriger zu finden, da es wenig männliche Fachkräfte gebe.
Christian Sulzberger berichtete von den Treffen der Arbeitsgruppen, alle Wünsche der Gruppe seien in das Konzept eingeflossen. Natürlich bedeute solch ein partizipativer Prozess Aufwand, so Marion Grimm, dieser Aufwand sei aber lohnend – alle Klient*innen fühlten sich gestärkt und durch die Arbeit mit pro familia gut über ihre sexuellen und reproduktiven Rechte aufgeklärt.
Einig waren sich Christian Sulzberger und Thomas Henrichsen darüber, dass es sexualpädagogische Konzepte in allen Einrichtungen der Behindertenhilfe geben sollte, damit alle handlungssicher seien. Thomas Henrichsen hob mit Hinweis auf reale Vorfälle in der Vergangenheit besonders auf den präventiven Aspekt sexualpädaogigischer Konzeptionen ab: "Weil Mißbrauch großes Leid bringt".
Für Einrichtungen, die sich auf den Weg begeben, ein sexualpädagogisches Konzept zu entwickeln, hatte Katrin Steinbrenner die Empfehlung, bestehende Gremien zu nutzen, um das Thema aufzunehmen und sich nach Möglichkeit einen verbindlichen zeitlichen Rahmen zu setzen. Katrin Steinbrenner bestärkte alle Einrichtungen, sich mit dem Thema Sexualität auseinanderzusetzen, auch kleine Schritte seien wertvoll: „Der Weg ist das Ziel“.
Aus dem Publikum, das am Ende des Gesprächs die Möglichkeit hatte, sich zu beteiligen, kam der Wunsch nach einer besseren Infrastruktur an Beratungsangeboten auch im ländlichen Raum. Zudem wurde eine bessere finanzielle Förderung für Projekte und Angebote, die die sexuelle Selbstbestimmung stärken, gewünscht.
Nach der Mittagspause hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, jeweils zwei Workshops zu besuchen, um tiefer in die Auseinandersetzung und den Austausch zu kommen.
Zur Auswahl standen
- Beteiligung ermöglichen / Wie gelingt Beteiligung für alle? (Francesca Keyerleber, pro familia)
- Sexpositive Haltung in Einrichtungen leben (Katharina Böhmer-Kastens, pro familia)
- Methodenwerkstatt / Materialien (Anne Zangl, Frank Bufler, Daniel Deggelmann, pro familia)
Im Workshop „Beteiligung ermöglichen / Wie gelingt Beteiligung für alle?“ näherte sich die Gruppe in einer Sammlung zunächst dem Begriff der Partizipation an. Es wurde die Frage geklärt, welche Voraussetzungen für gelingende partizipative Prozesse auf individueller wie auf institutioneller Ebene gegeben sein müssen. Es wurden verschiedene Stufen von Partizipation herausgearbeitet und anhand von praktischen Beispielen erläutert. (Präsentation)
Im Workshop "Sexpositive Haltung in Einrichtungen leben" wurde der Begriff "sexpositiv" zunächst inhaltlich gefüllt und durch folgende Kriterien beschrieben: 1. keine Bewertungen vorzunehmen und niemandem die eigenen Vorstellungen aufzuzwingen; 2. Menschen den eigenen Weg gehen lassen; 3. Konsens / Einvernehmlichkeit; 4. verbindliche Grenzen - z.B. Gesetze - sind wichtig. In Kleingruppen versetzten sich die Teilnehmenden ins Jahr 2035 in eine sexpositiven Gesellschaft. Wie sehen die Innenräume von Einrichtungen der Behindertenhilfe aus, über welche Kompetenzen verfügen die Fachkräfte? Welche Angebote gibt es in Einrichtungen? Wie reagieren die Menschen in einem sexpositiven Umfeld aufeinander? Die so erarbeitete Utopie einer sexpositiven Einrichtung der Behindertenhilfe führte zum Fazit: "Es gibt noch viel Luft nach oben!"
In der „Methoden-Werkstatt“ bot sich den Teilnehmenden die Chance, sexualpädagogische Materialien sowie deren unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten in Einzel-Beratungen, Schul-Klassen oder Wohn-Gruppen kennenzulernen. Ausführlich wurden die von Gabi Plan-Geiger entworfenen und hergestellten „Bauchlächeln“- Materialien besprochen. Mit diesen können sehr anschaulich und für jeden be-greif-bar die inneren und äußeren Geschlechtsmerkmale gezeigt und z.B. der Samenerguss oder der Eisprung erklärt werden. Auch auf die sehr umfangreiche Material- Sammlung von ReWiKs , herausgegeben von der BzgA, sowie Materialien zur unterstützten Kommunikation wurde eingegangen. Abschliessend hatten die Besucher des Workshops die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild von den Vorlagen und Broschüren für die sexualpädagogische Arbeit zu machen. Eine umfangreiche Literatur- und Medienliste zum Thema "Sexualität und Behinderung" mit Literatur-Tips, Bezugsmöglichkeiten lag der Tagungsmappe bei.