Am 19.04.2021 hat pro familia Baden-Württemberg in Kooperation mit der Lebenshilfe Baden-Württemberg im Rahmen des Landesprojektes „Behinderung, Sexualität und Partnerschaft“ zum virtuellen Fachtag „liebe ∙ lieber ∙ selbst ∙ bestimmt“ eingeladen. Der Fachtag war als inklusive Veranstaltung konzipiert und richtete sich an Menschen mit Behinderungen, deren Angehörige und Fachkräfte aus der Behinderten-Hilfe und Selbsthilfe.
Die zentrale Fragestellung des Fachtages war, inwieweit Menschen mit Behinderungen ihre Sexualität im Alltag selbstbestimmt leben können, welche Angebote hier unterstützen könnten und wie jede*r einzelne sein Handeln hinterfragen bzw. so ausrichten kann, dass das selbstbestimmte Leben von Partnerschaft und Sexualität von Menschen mit Behinderungen gelingen kann. Rund 250 Teilnehmer*innen verfolgten online die Vorträge der Referent*innen, diskutierten im Chat und tauschten sich in den anschließenden Arbeitsgruppen aus.
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Im Mittelpunkt stand die Vorstellung der Ergebnisse der Datenerhebung, die im Rahmen des Landesprojektes in Einrichtungen der Behindertenhilfe in Baden-Württemberg durchgeführt wurde. Absicht der Befragung war es, die Bedarfe von Menschen mit Behinderungen, aber auch von Fachkräften und Angehörigen in Bezug auf den Themenkomplex Sexualität und Behinderung zu ermitteln. Auf dem Fachtag wurden die Ergebnisse durch das Projektteam Francesca Keyerleber und Frank Bufler erläutert und die sich daraus ableitenden Maßnahmen, die zur Zeit in Zusammenarbeit mit neun pro familia-Beratungsstellen erarbeitet werden, beispielhaft vorgestellt.
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Prof. Dr. Simone Danz, Professorin für Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg referierte zum Thema Menschenrechtsbildung, insbesondere zur Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsbildung und -training aus dem Jahr 2011. Diese Erklärung beschreibt und fordert das Recht auf den Zugang zu Menschenrechtsbildung und die Pflicht zur Förderung und Bereitstellung von Menschenrechtsbildung. Der Vortrag machte eindrücklich deutlich: Menschenrechtsbildung ist eine Aufgabe für alle!
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Elternschaft darf als grundsätzliches Recht nicht am Hilfebedarf der Mutter oder des Vaters scheitern. Aber Welche Möglichkeiten haben Menschen mit Behinderungen bezüglich einer selbstbestimmten Familienplanung oder dem Zusammenleben mit leiblichen Kindern? Thomas Feistauer, Geschäftsführer der Lebenshilfe Aalen machte in seinem Vortrag über Begleitete Elternschaft deutlich, dass es sich bei dem Thema um ein Schnittstellenthema von Behindertenhilfe und Jugendhilfe handelt, da Angebote gleichermaßen an den Bedarfen der Eltern wie auch den Bedürfnissen der Kinder orientiert sein müssen.
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Sexuelle Bildung und Beratung in der Praxis. Was gibt es schon, was brauchen wir noch?
Über bestehende Angebote und offene Bedarfe im Bereich der sexuellen Bildung für Menschen mit Behinderung sprach Gudrun Christ, Geschäftsführerin von pro familia Baden-Württemberg mit Jonny Thomas, Werkstattrat und Mitarbeiter im inklusiven Kulturcafé „Der Bunte Hund“ und dem Sexualpädagogen Jürgen Schaaf (pro familia Stuttgart).
Jonny Thomas ist Werkstattrat und Mitarbeiter im inklusiven Café Bunter Hund in Schwäbisch Gmünd, Jürgen Schaaf ist Sexualpädagoge im Team Teilhabe von pro familia Stuttgart. Gudrun Christ sprach mit den beiden darüber, was Seminare zur sexuellen Bildung bringen, was bei der Partnersuche hilfreich ist und was hilfreich ist, sexuell selbstbestimmt leben zu können.
Jonny hat in den letzten Jahren viele Seminare zur sexuellen Bildung besucht und sagt, er habe dort viel gelernt. Er habe dort erstmals die Erfahrung gemacht, über seine Sexualität sprechen zu können und in Rollenspielen zu lernen und zu üben. Ein Thema sei gewesen: „Was ich liebe“. Er sagt: „Das war wichtig, bei Seminaren zu hören, wie andere Männer ihre Sexualität leben“. Wichtig fand er auch, Dinge ausprobieren zu können und im Rollenspiel zu üben: „Das Wichtigste bei der Partnersuche ist: da sitzt jemand und dann, wie spreche ich ihn an?“ Auch in der Werkstatt für Behinderte hat er mal an einem Kurs mit Titel „Lass es! Finger weg!“ teilgenommen. Dort ging es in Rollenspielen darum, was darf man, was nicht. Zum Beispiel wie nahe darf man jemandem auf die Pelle rücken. Für Jonny ist sexuelle Bildung auch in der Werkstatt wichtig, weil man da viel Zeit verbringt.
Seine Eltern haben ihn nicht aufgeklärt. „Früher habe ich mit niemandem geredet, da habe ich mich versteckt.“ Das sei erst anders geworden, als er zur Lebenshilfe kam, vor allem mit den Kursen.
Jürgen Schaaf, der seit langem in der sexuellen Bildung arbeitet, beschreibt, dass Jonnys Erfahrung kein Einzelfall ist. Häufig finde Aufklärung im Elternhaus nicht statt, werde über das Thema Sexualität dort nicht gesprochen. Auch in den Einrichtungen hat sich erst in den letzten 10 Jahren einiges geändert. Dort werde heute viel offener mit dem Thema Sexualität umgegangen. Auch für Fachkräfte werde mehr angeboten. Und es ist nach seiner Erfahrung heute mehr im Bewusstsein, dass es auch buchstäblich Raum für Intimität braucht. Möglichkeiten, ungestört mit jemandem zusammen sein zu können. Jonny hat heute diesen Raum, aber er kennt auch Zweibettzimmer noch aus eigener Erfahrung.
Jürgen Schaaf beschreibt den manchmal schwierigen Balanceakt z.B. zwischen einem hohen Unterstützungs-/ Assistenzbedarf einerseits und dem Wunsch und dem Recht auf Intimität und Ungestörtheit andererseits.
Ein Ergebnis der Erhebung von pro familia war, dass es schwierig ist, einen Partner zu finden – auch Jonny sieht das als großes Problem. Wo lernt man Menschen kennen? Zum Beispiel auf Single-Börsen oder -Veranstaltungen. Die müssten aber lokal stattfinden, viele hätten Angst vor langen Strecken. Oder sie fänden keinen Menschen, der sie fährt. Jürgen Schaaf begrüßt die Zunahme von Single-Börsen, sagt aber: „Überregionale Single-Börsen sind zum Scheitern verurteilt, da der logistische und personelle Einsatz viel zu groß ist und so eine Börse dann vielleicht nur einmal im Jahr veranstaltet werden kann.“
Lokale Angebote, das vermisst Jonny zum Beispiel in seinem Wohnort Schwäbisch Gmünd. Dort gäbe es keine Beratungsstelle, zu der er einfach gehen kann. Und vor allem: mehr inklusive Orte, „ wo auch Menschen mit Behinderung und ohne Behinderung zusammen hocken und miteinander reden und da helfen wo Hilfe notwendig ist“ .
Was genau unter dem Begriff Sexualbegleitung zu verstehen ist und welche Möglichkeiten mit dem Angebot verbunden sind, berichtete die Sexualbegleiterin „Seelenkind“ Jessica Philipps, die auch auf Vorurteile gegenüber ihrer Tätigkeit einging.
Nach sieben intensiven Stunden mit vielfältigem Input, verschiedensten Anregungen und Impulsen konnte als vorläufiges Fazit gezogen werden, dass der Themenkomplex Sexualität und Behinderung sich über viele Jahre von einem gesellschaftlichen Tabuthema zu einem Thema entwickelt hat, dessen grundsätzliche Bedeutung nicht mehr in Frage steht.
Dennoch ist klar: Es braucht weitere Anstrengungen, um Barrieren beim Zugang zu Beratung und Bildung abzubauen. Inklusive Angebote und Angebote für Menschen mit sogenannter Behinderung müssen ausgebaut und weiterentwickelt werden. Dies gilt ebenso für Angebote zur Sensibilisierung und Qualifizierung von Fachkräften und Angebote, die Angehörigen weiterhelfen.
Die Veranstalterinnen erinnerten an die Verantwortung des Landes, das die Teilhabe auch für die Themen Partnerschaft, sexuelle Selbstbestimmung und Wunsch nach eigener Familie in den Blick nehmen, einfordern und Eckpunkte dafür gestalten kann. Zum Beispiel im Landesaktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Er benennt Themenbereiche, für die Handlungsbedarf besteht, formuliert Maßnahmen und stellt Ressourcen zur Verfügung. Auch die Ergebnisse aus dem bundesweiten Projekt ReWiKs der BzGA, das ebenfalls die sexuelle Selbstbestimmung zum Ziel hat, sind in Baden-Württemberg noch kaum bekannt.
Sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung muss sich auch dort finden, wo es um den konkreten Bedarf zur Umsetzung umfassender Teilhabe jedes einzelnen Menschen mit sogenannter Behinderung geht: bei Leistungen nach dem Bundesteilhabegesetz. Hier sind die Kommunen gefordert, die Angebote sicherstellen und finanziell hinterlegen müssen. Neben dem Zugang zu Beratung und Bildung geht es auch um Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten für Paare, Elternassistenz oder um Sexualbegleitung.
Aber auch Angehörige und Fachkräfte brauchen für ihre Fragen entsprechende Ansprechpartner*innen und Angebote. Das Land Baden-Württemberg ist mit dem Projekt „Behinderung, Sexualität und Partnerschaft“ einen beachtlichen Schritt in die richtige Richtung gegangen, aber es braucht weitere, engagierte Schritte auf dem Weg Menschen mit Behinderungen eine selbstbestimmte Sexualität zu ermöglichen.
Die Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen sowie einige Links***, die Teilnehmende im Rahmen der Tagung vorgeschlagen haben, können Sie hier herunterladen:
inhaltliche Zusammenfassung der Arbeitsgruppen
***wir weisen darauf hin, dass wir auf den Inhalt der verlinkten Seiten keinen Einfluss haben.